Hippie oder Kapitalistenschwein?

Konkret:

Liebes Tagebuch,

Schon wieder platz mein Kopf vor lauter Sinnfragen! Was will ich mit meinem Leben erreichen? Was erachte ich selbst als gut? Was als schlecht? Welche Veränderung will ich in der Welt hinterlassen? Welchen Lebensstil erachte ich selbst als richtig für mich und nachhaltig und sozial genug für die Gesellschaft? Ist es gut und richtig, nicht nur für sein Ego mitzudenken, sondern ebenfalls die Gesellschaft im großen Kontext bei der Wahl von Entscheidungen miteinzubeziehen?

R. sagt ja immer, ich würde mir zu viele Gedanken machen, um Dinge, die überhaupt keine Probleme sind und die sich selbst schon fügen. Er hat ja Recht! Andererseits hat er eine klare Position in vielen – gerade politischen – Themen, ich allerdings bin noch dabei die Dinge zu durchdenken und durchzusteigen. Konkret suche ich nach Lösungen für die Probleme. Klimawandel schön und gut. Demonstrationen und Aktivismus-Aktionen schön und gut. Soziale Ungerechtigkeit schön und gut. Plastikmüll im Meer, Korruption der Politiker, Selbstbereicherung von eh schon viel zu Reichen, ungerechtes Geldsystem, hässliches Stadtbild, psychische Probleme von viel zu vielen in der Bevölkerung, überarbeitete Leistungsgesellschaft, verschuldeter Staat, oberflächliche Beziehungen, Sinnkriese, Hamsterrad, Drogenkonsum, Alkoholismus, Wertverlust, Naturferne, selbstzerstörerische Glaubenssätze, Einsamkeit, Humorlosigkeit, Kulturlosigkeit – alles schön und gut!

Gestern haben wir die Dokumentation über Berthold Brecht angeschaut (Empfehlung!). Dort wird ein Bild von Brecht gezeichnet, dass ihn als revolutionären, aneckenden – aber dennoch erfolgreichen Autor zeigt! Er passt sich nicht blind an, sondern nutzt die Bühne, um politische Geschehnisse zu hinterfragen (DDR, 1./2. Weltkrieg), das Weltbild der Menschen aufzulockern (z.B. im Bezug auf Sexualität) und damit zu schockieren und zugleich zu provozieren. Er lässt sich nicht einsperren – nicht durch seine Ehe (zahlreiche Geliebte – aber auf emotionalen Kosten seiner Ehefrau), noch durch die Politik, die mehrfach versucht ihn vor ihren eigenen Wagen zu spannen! Eine spannende Zeichnung einer Künstlerbiografie – bei der es nicht um Wirtschaftswachstum, Geldvermehrung, Unternehmenserfolg, sondern um meinungsschaffende Reichweite geht. Um Ausdruck und zur SchauStellung von Thematiken, um die Genialität eines Werkes an sich. Aber auch – im gleichen Atemzüge – natürlich um Anerkennung und Berühmtheit. Ein Expandieren in anderer Art und Weise!

Will ich expandieren? Will ich meinen Wirkungskreis – sei es durch Geld, sei es durch Berühmtheit, sei es durch Werke erweitern? Und um welchen Preis? Sowohl Brecht, als auch z.B. Schiller wussten schon im frühen Alter, dass sie zu etwas „Großen“ geboren wurden. Dies haben sie auch öffentlich bekannt gegeben; unter diesem Wert würden sie nicht leben wollen. Zielsetzung und danach radikale Zielanstrebung. Eine bewusst getroffene Entscheidung. Braucht es diese, um „Großes“ zu vollbringen? Und wie sieht dies im individuellen Fall aus. Bei 8 Milliarden Menschen, die mit dem Thema „Selbstverwirklichung“ zu kämpfen haben. Und die privilegierte Stellung von uns, sich bewusst zu diesem Thema zu positionieren. Zufriedenheit, Minimalistischer Ansatz, Hippie-Life, einfaches Handwerk, Naturverbunden. Reichweite generieren, im Einfluss expandieren, Veränderung schaffen, Revolutionär sein und für Werte, Utopie kämpfen…

Menschen positionieren sich – vlt auch unterbewusst – zu genau solchen Thematiken! Die Unterschiede, die aus dieser Einstellung resultieren sind teilweise immens. Unterschiedliche Lebensrealitäten. Im Leben kann man mit Menschen zu tun haben, die unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben. Man kann natürlich auch in der „Bubble“ von Gleichgesinnten bleiben. Dort ist es einfacher sich selbst zu definieren und seinen Platz innerhalb dieser Gleichgesinnten zu suchen. Weniger Reibung, weniger Auseinandersetzung, weniger Lösung-/Kompromiss-/Ablehnungs-Pflichtsuche. Wird man nun aber mit unterschiedlichen „Bubbles“ konfrontiert, stellt sich die Identitätsfrage viel größer. Einfach anpassen geht nun ja nicht mehr, denn vorher wird eine bewusste Entscheidung nach der Wahl der „Bubble“ abverlangt. Und wer will denn überhaupt noch in eine eng gefasste Bubble zurück, wenn er doch viele verschiedene kennengelernt hat. In welchen Lebensbereichen ist eine generelle Offenheit und eine bewusst gesetzte „Meinungslosigkeit“ von Vorteil? Die Flexibilität verschiedene Perspektiven zu durchdenken und sich im konkreten Fall zu entscheiden, anstelle von routiniert und gleichbleibend. Und in welchen Lebensbereichen benötigen wir klare Entscheidungen, um überhaupt ins Handeln zu kommen, um Beziehungsfähig zu werden, um uns zu verorten.

Theater ist nun die Fähigkeit dies Grundkonzepte menschlichen Verhaltens auf konkrete Situationen zu übertragen, die dann exemplarisch die Geschichte erzählen, wobei jeder die Grundstruktur, die dahinter liegt für sich selber extrahieren kann. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich nicht nur analysiere und wild Fragen hinterherjage, sondern diese in eine konkrete Geschichte verpacke. Ich denke so werden gute Autoren geboren. (Plus natürlich etliche andere Fähigkeiten!)

Um das Dealen mit diesen Widersprüchen von verschiedenen Bubbles, um Entscheidungen bzgl. Lebensinhalt, um den Kampf zwischen Werten und Kapitalismus, darum geht es in dem Monolog an dem ich zur Zeit arbeite. Soheil Boroumand, mein derzeitiger Regisseur, hat mir einen Text zu genau dieser Auseinandersetzung verfasst. Nach einem längeren Gespräch im hübschen Café „Tanne B“ in Kreuzberg und meinen ihm zur Verfügung gestellten Notizen zu dieser Thematik setzte er sich hin und schrieb einen Text. Zielsetzung hierbei für mich: Meine eigene Stimme zu finden, mit Thematiken zu dealen, die mich wirklich berühren, mich selbst zu spielen, in die totale Behauptung zu gehen und Authentizität zu erzeugen!

Ich bin gespannt, wohin mich diese Arbeit führt und schließe diesen Text voller unbeantworteten, unvollständigen Gedanken mit der Zuversicht der Fügung und der Gelassenheit des Moments.